Am dritten Tag unserer Exkursion beschäftigen wir uns mit der Finanzkrise und ihren Nachwirkungen für den spanischen Staat. Wir begeben uns hierfür nach Manresa und Sabadell, um von Mitgliedern einer der größten Bürgerinitiativen mehr über den Widerstand gegen die Banken und die politische Untätigkeit zu erfahren.
Spaniens Weg in die Rezession
Die Lehman-Brothers-Pleite von 2008 führte zu einer globalen Wirtschaftskrise. In den Folgejahren entwickelte sich die Situation für Europa zusätzlich zu einer Staatsschuldenkrise und einer Bankenkrise. Bis dahin konnte Spanien als ein Musterbeispiel einer erfolgreichen Volkswirtschaft angesehen werden, denn der Staat verzeichnete in 2008 bereits das vierzehnte Wachstumsjahr in Folge. Jedoch musste auch die Wirtschaft des spanischen Staates den restlichen europäischen Ländern in eine lang anhaltende Krise folgen, nachdem das spanische Mustermodell seine Mängel offenbart hatte. Eine Kombination aus politischen Entscheidungen, der Staatsstruktur, dem institutionellen Verfall und der Mitgliedschaft in einer fehlerhaften Währungsunion können als wesentliche Ursachen für die Wirtschaftskrise in Spanien genannt werden. Ähnlich wie die Euro-Zone erlebte Spanien eine dreifache Krise aus finanziellen, fiskalischen und kompetitiven Problemen.
Hintergründe der Wirschafts- und Immobilienkrise Spaniens
Warum war Spanien für die Krise anfällig? Trotz des jahrelangen Wachstums schaffte es Spanien nicht, seine Produktivität zu erhöhen. Im Gegenteil schrumpfte diese regelmäßig und lag unter dem EU-Durchschnitt. Die produktivsten Aktivitäten trugen beispielsweise nur elf Prozent zum BIP-Wachstum bei. Ein weiteres Problem war, dass Spaniens Wachstum auf ökonomisch schwachen Sektoren konzentriert war. Zu diesen gehören die Dienstleistungen und das Bauwesen, welche nicht dem äußeren Wettbewerb ausgesetzt sind. Im Vergleich zum Rest der EU lag die Inflationsrate in Spanien ungefähr einen Punkt über dem Durchschnitt. Dadurch konnten sich spanische Unternehmen schlechter an Marktanteilen beteiligen, denn spanische Produkte verloren an Wettbewerbsfähigkeit. Heiner Flassbeck sieht das Problem für südeuropäische Länder bei ihren Partnern. So konnte beispielsweise Deutschland seit Bestehen der Währungsunion Lohnstückkosten niedrig halten, während diese in südeuropäischen Staaten anstiegen. Außerdem war die Zielinflationsrate niedriger als in Spanien und anderen Ländern, die allmählich die Marktanteile verloren. Des Weiteren stand die private Verschuldung 2006 bei 115 Prozent und der Anteil des Bauwesens am BIP bei 18,5 Prozent. Die Hauspreise sind seit 1998 um 150 Prozent gestiegen und der Durchschnittspreis für einen Quadratmeter Wohnraum kletterte von 700 Euro im Jahr 1997 auf 2000 Euro im Jahr 2006 bei gleichzeitiger Verdopplung des Wohnungsbestands. In Spanien wird Wohneigentum der Miete vorgezogen, woraus folglich die Nachfrage nach Krediten steigt. Vor der Finanzkrise fokussierte sich das Bauwesen auf die Errichtung von Wohnvierteln, die sich anschließend in Leerstand verwandelten. Solche Fehlkalkulationen und verschwenderische Investionen erfolgten auch auf staatlicher Ebene und förderten den Korruptionsverdacht. Die Anzeichen für eine Blasenbildung waren grob erkennbar. Aber der Staat unternahm wenig, um die Produktivität mit Hilfe von Reformen im Bildungswesen und Investitionen in Forschung und Entwicklung zu erhöhen. Zudem fehlten Reformen für den öffentlichen Sektor und den Arbeitsmarkt. Das Leistungsbilanzdefizit in den Jahren 2006 und 2007 betrug jeweils 8,9 und 10 Prozent, was Spanien zum größten Verlierer nach USA machte. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise führten Spanien in eine der schlimmsten Rezessionen in der Geschichte des Landes. 2012 erreichte die Arbeitslosigkeit ein Niveau von 27 Prozent, was mehr als 6 Mio. Menschen entsprach. In den Jahren vor der Finanzkrise war die Regierung unter Zapatero nicht bereit, die Krise als solche anzuerkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Grund dafür waren die Wahlen im März 2008, sodass der Wahlkampf die ökonomischen Probleme überwog. Die Regierung handelte zwar danach, aber es war zu spät. Hervorzuheben ist außerdem, dass der Finanzsektor durch die exzessive Darlehensgewährung an Bauträger und Hypotheken zu der Immobilienblase beigetragen hat. Nach Ausbruch der Krise wurde deutlich, dass vielen Banken Insolvenz droht. Die Folge davon war die finanzielle Rettungsaktion von der EU in 2012. Die damit verbundenen restriktiven Konditionen leiteten auch für Spanien eine Austeritätspolitik ein, um die Defizite der letzten Jahre auszugleichen.
Im Jahr 2018 hat Spanien die Arbeitslosigkeit auf ca. 16 Prozent reduziert, was immer noch hoch ist, dennoch ließ sich das fünfte Jahr BIP-Wachstum verzeichnen. Jedoch liegt der Schuldenstand am BIP nach zehn Jahren bei ungefähr 100 Prozent deutlich höher. Der Reformprozess hat in Spanien Fortschritte gebracht, aber dieser muss weitergeführt werden.
Wir haben während unserer Exkursion die Spuren der Wirtschaftskrise gesehen, dass manche Bevölkerungsgruppen sich den Wohnraum nicht leisten können und sich an Initiativen wenden. Die Krise wird aktiv von der Bevölkerung und durch Selbstorganisation und Solidarität bekämpft. Insbesondere gelingt das im Bezug auf die Wohnungsnot. So ist während der Immobilienkrise eine der größten Bürgerinitiativen, die PAH, entstanden.
Royo (2015), S. 9-12.
Was ist PAH?
PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca) ist eine Plattform gegen Zwangsräumungen in Spanien. Sie entstand 2009 während der Finanz- und Immobilienkrise in Spanien und bietet Hilfe zur Selbsthilfe für Menschen, die sich eine normale Wohnung nicht leisten können. Die in ganz Spanien aktiven, horizontal organisierten Gruppen versuchen, Menschen bei ihrer Suche nach bezahlbarem Wohnraum zu unterstützen, vermitteln leerstehende Wohnungen, bieten Rechtshilfe, setzen sich gegen Zwangsräumungen ein und besetzen zusammen mit Wohnraumsuchenden leerstehende Wohnungen, die Banken oder Immobilienfirmen gehören. Ziel hierbei ist nicht die Schädigung der Wohnungsbesitzer, sondern den Verfall neuer, aber leerstehender Immobilien zu verhindern und legalen sowie vor allem bezahlbaren Wohnraum für finanzschwache Menschen zu schaffen. Obwohl PAH in den letzten Jahren für viele Menschen die letzte Hoffnung war, vielen Menschen helfen konnte und eine Gesetzesinitiative für bezahlbaren Wohnraum auf den Weg gebracht hat, gelten die Gruppen aufgrund der illegalen Hausbesetzungen in Spanien als politisch umstritten.
PAHC Manresa
Mit dem Zug aus Barcelona erreichen wir Manresa. Dort treffen wir zwei Aktivist_innen der PAHC. Mit Hilfe der Initiative konnten für einige Menschen in Not sieben Gebäude als Wohnraum gewonnen werden. Auf dem Weg zu einem der besetzten Gebäude erfahren wir, dass mehr als 120 Familien bereits in solchen besetzten Häusern in Manresa wohnen. Die Aktivist_innen unterstreichen die Rolle der Initiative, indem sie die PAHC sogar stärker als die politische Opposition einschätzen. Wir passieren das erste besetzte Gebäude, welches als Versammlungsort für die Gruppierungen dient. Es liegt im ältesten Viertel von Manresa, wo der Migrantenanteil besonders hoch ist. Nach der Wirtschaftskrise blieben viele Wohnungen leer. Manresa weist in Katalonien den höchsten Leerstand mit 21 Prozent auf, denn die Stadt war ebenfalls das Ziel von spekulativen Immobiliengeschäften, die die Wohnungspreise in die Höhe trieben. Man erzählt uns, dass PAHC mit anderen Initiativen kooperiert. Eine davon bietet den Jugendlichen eine Boxschule an, in der den Kindern neben der Selbstverteidigung auch soziale Werte vermittelt werden. In Manresa leben sehr viele Migranten aus Marokko und der Anteil von unbegleiteten Minderjährigen ist hoch. Die Angebote der PAHC helfen ihnen, die Migrationsphase nicht allein durchleben zu müssen. Als die Wirtschaftskrise ausbrach, kehrten manche Migranten aus Lateinamerika und anderen Herkunftsländern in ihre Heimat zurück. Wir erfahren von den Aktivist_innen, dass die Arbeit von PAH in Manresa und Sabadell einen Schritt weitergeht. Die Plataforma richtet sich zusätzlich gegen Kapitalismus, deshalb nennt sie sich PAHC. Die Bewegung entstand während der Wirtschaftskrise, weil die Menschen nicht mehr die Hypotheken begleichen konnten. Zu den Betroffenen zählten insbesondere die Arbeiterklasse und die Mittelschicht. Zu den Pionieren der PAH gehörten zunächst traditionelle spanische Einheimische, die sich gegen die Zwangsräumungen mobilisierten. Später schlossen sich ihnen Migranten an. Unsere Gruppe erreicht den sogenannten Block „Set“, also das jüngste der sieben besetzten Gebäude. Auf dem Dach des Hauses hören wir mehr über die PAHC.
Zu Gast auf dem Dach eines durch PAHC Manresa besetzten Hauses. Alex (links) übersetzt uns grundlegende Informationen über die Gruppe und unsere Fragen an die Aktivistin (Mitte), sowie die persönlichen Schicksale zweier im Haus wohnenden Frauen (rechts).
In Spanien gibt eine Familie ungefähr 70 % des Einkommens für Wohnraum aus. Solche Ausgaben waren während der Krise unrealistisch hoch, weshalb die PAH als erste Forderung maximal 20 % für Wohnraum verlangte. Der zweite Wunsch der Initiative war das Ende von Zwangsräumungen. Und schließlich sollte die Regierung sozialen Wohnraum schaffen. Die Forderungen wurden in das spanische und katalanische Parlament eingereicht, jedoch blieben diese ohne Erfolg. In Katalonien wurde zwar ein progressives Gesetz verabschiedet, jedoch ist es dem spanischen Gesetz untergeordnet. Trotz der Schwierigkeiten auf politischer Ebene gelang es der Initiative mehr als 5000 Zwangsräumungen in ganz Spanien zu verhindern. Um das zu schaffen, bilden die Aktivist_innen entweder Menschenketten oder verbarrikadieren sich in Häusern der Betroffenen. Man erzählt uns außerdem, dass Spanien die Zwangsräumungen mit einem Expressräumungsgesetz vereinfacht hat, sodass ein richterlicher Beschluss nicht mehr nötig war. Unsere Gesprächsrunde mit den Aktivist_innen wird erweitert, als zwei Bewohner_innen zu uns kommen. Beide sind Migrant_innen und erzählen über sich. Für eine der Frauen war die erste Woche nach der Besetzung des Hauses sehr bewegend, weil sie viel Unterstützung von anderen Mitgliedern und ihren neuen Nachbarn bekommen hat, um ihre Wohnung mit Möbel auszustatten. Wir werden zum Tee mit hausgemachten Leckerbissen in eine der Wohnungen eingeladen und führen das Gespräch dort weiter.
Im Anschluss kamen wir in den Genuss äußerst leckerer marokkanischer Gastfreundschaft und konnten so einen weiteren Einblick in das Leben der Familien in besetzten Häusern bekommen.
Die Aktivist_innen heben hervor, dass PAHC mehr als die Wohnraumfrage löst. Vielmehr will man ein Netzwerk schaffen, welches Solidarität und Engagement bei seinen Mitgliedern steigert und an neue Mitglieder weiterreicht. Wer in ein besetztes Haus einziehen darf, entscheiden die Bewohner in einer Versammlung. In der Regel sind Menschen, die eine Wohnung bekommen, schon sechs oder acht Monate bei der PAHC aktiv. Falls es keine anderen Alternativen für den Erwerb einer Wohnung gibt, hilft PAHC mit dem besetzten Wohnraum. Die gefährlichste Zeit nach einer Besetzung sind die nächsten 48 Stunden, weil die Polizei das Recht hat, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Aus diesem Grund kommen viele PAHC-Mitglieder zusammen, um sogar Wache zu schieben. Die zu besetzenden Gebäude werden danach ausgesucht, ob diese den Banken gehören. Block „Set“ gehört im Gegensatz zu den ersten sechs aber einer Immobilienfirma. In Katalonien bekommen die Aktionen der PAHC Beifall von dem Rest der Einwohner, weil die Banken nach der Krise sehr stark in der Öffentlichkeit kritisiert werden. Bevor wir uns auf den Weg zu zwei anderen Orten der PAHC in Manresa vorbereiten, erklärt man uns, dass die Arbeit bei PAHC unentgeltlich ist und die Aktivist_innen einem normalen Job nachgehen. Die meisten Menschen, denen die PAHC geholfen hat, engagieren sich weiter als Mitglied der Initiative. Wir bedanken uns für die Gastfreundschaft des Blocks „Set“ und suchen weitere Orte der PAHC auf. Der erste ist eine Schule, in welcher nach dem Montessori-Konzept akademische und soziale Fächer gelehrt werden. Nach der Eröffnung vor drei Jahren, nehmen nun mehr als 60 Kinder das Angebot wahr.
Die Aktivist_innen von PAHC Manresa versuchen nicht nur, Hilfesuchenden mit Wohnungen zu helfen, sondern wollen auch darüber hinaus ein möglichst gutes und normales Leben finanzschwachen Familien ermöglichen. Dazu gehört auch ein Bildungsangebot für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Der zweite Ort ist eine Frauenschule. Auch sie wurde vor drei Jahren gegründet und hilft Frauen mit unterschiedlich kulturellen Hintergründen, Katalanisch oder Spanisch zu sprechen und zu schreiben. Dies ist auch der Ort, an welchem eine feministische Initiative den Frauen mit und ohne Migrationshintergrund hilft, sich gegen Sexismus und Rassismus zu behaupten.
PAHC Sabadell
Anschließend geht es mit dem Zug weiter nach Sabadell, wo wir mit weiteren Aktivist_innen der dort ansässigen PAHC verabredet sind. Wir treffen uns in einem großen und modernen Mehrfamilienhaus, welches früher von PAHC Sabadell besetzt war. Hier berichtet uns ein Aktivist und Hausbewohner von einem ganz besonderen Erfolg: Nachdem PAHC Sabadell und Wohnraumsuchende jahrelang ein großes Mehrfamilienhaus besetzt haben und mit der Immobilienfirma, der das Haus gehört, und der Regierung von Sabadell Verhandlungen geführt haben, gelang es ihnen schließlich, Mietverträge für alle Hausbewohner abzuschließen. Die in den Verträgen festgesetzten Mieten richten sich dabei nach dem Einkommen des Mieters, wer mehr Geld verdient muss auch mehr Miete zahlen. So ist es einer Familie beispielsweise möglich, in einer ausreichend großen Wohnung zu leben und dabei weniger als 300€ für die Miete auszugeben. Diese Mietverträge sind aber nicht nur zwischen den Mietern und der Immobilienfirma geschlossen, sondern beteiligen auch den katalanischen Staat sowie die Stadt-Administration, welche die Differenz der unterschiedlichen Mieten übernimmt. Daraus ergibt sich nicht nur ein Vorteil für die Hausbewohner, sondern auch für die Stadt, da das Haus so in einem gepflegten Zustand bleibt und positiv zum Stadtbild beiträgt. Außerdem erzählt uns auch dieser Aktivist von seiner ganz persönlichen Lebensgeschichte, wie und wieso er von Afrika nach Katalonien gekommen ist, wie er versucht hat, sich in dem neuen, fremden Land durchzuschlagen und wie PAHC Sabadell sein Leben positiv verändert hat. Während er erzählt und unsere Fragen beantwortet, kommt noch eine weitere Aktivistin und Hausbewohnerin hinzu. Auch sie berichtet von ihrer Situation. Außerdem wird deutlich, wie gut sich die Hausbewohner untereinander verstehen, wie stark der Zusammenhalt noch immer ist und wie dankbar alle sind, eine Wohnung bekommen zu haben. Jetzt hoffen sie, dass ihr Ansehen bei den anderen Stadtbewohnern etwas steigt. In der Vergangenheit sei es nämlich häufiger zu (rassistischen) Anfeindungen gekommen, da die Aktivist_innen in dem besetzten Haus als Schmarotzer angesehen wurden. Anschließend dürfen wir noch die Wohnung des Aktivisten besichtigen.
In Sabadell hatten wir ebenfalls die Möglichkeit mit Aktivist_innen der dortigen PAHC zu sprechen. Zwei Hausbewohner erzählten uns auch hier ihre persönliche Geschichte und wie sich ihr Leben durch PAHC verändert hat. Das Besondere hier: Durch ihr jahrelanges Durchhaltevermögen und Besetzung des Hauses haben inzwischen alle Bewohner legale Verträge zu für sie erschwinglichen Mieten.
Text: Linda Freiberger, Alexander Strokin