Flucht und Migration: „Ninguna persona es ilegal“ – Niemand ist illegal

Spanien, das in der europäischen und in der Weltgeschichte stets eine bedeutende Rolle gespielt hat, war schon immer ein Land des kulturellen Austauschs gewesen: Ob das maurische Spanien im Mittelalter oder das Spanische Kolonialreich in der Neuzeit: die Iberische Halbinsel war immer ein Ort, an dem verschiedene Kulturen und Weltbilder sich begegnet sind.

Aus diesem Grund haben sowohl Immigration als auch Emigration die Gesellschaft und das soziale Leben des Landes schon immer mitgeprägt. Aufgrund des Sonderstatus Kataloniens vor allem in Wirtschaft und Politik entwickelten sich in der Region Formen von Migrationsbewegungen, die sich selbst innerhalb Spaniens hervorheben.

Um den gesellschaftlichen Hintergrund und einige der direkt betroffenen Menschen besser zu verstehen. Steht im Zuge der Exkursion am Tag 6 zum einen ein Besuch im „Museum der Immigrationsgeschichte Kataloniens“ und zum anderen ein Gespräch mit den „Manteros“ in ihrem Geschäft an.

Museu d’història de la immigració de Catalunya

Das Museum der Immigrationsgeschichte Kataloniens liegt in der zum Barcelona gehörenden Vorstadt Sant Adrià de Besòs. Im Auftrag der katalanischen Regierung und finanziert durch die örtliche Stadtverwaltung hat es sich zum Ziel gemacht, Besucher über Migration in der Vergangenheit und heutigen Zeit Kataloniens aufzuklären und zu sensibilisieren.

Im Gespräch mit der Museumsleiterin Imma Boj erfahren wir weitere Fakten über das Museum und dessen Umfeld: Die Stadt Sant Adrià, die früher von den dort ansässigen Unternehmen und der Industrie profitiert hat, hat ihren Zenit seit der Wirtschaftskrise in Spanien lange überschritten. Viele Fabriken wurden geschlossen und die Stadt weist heute den niedrigsten Durchschnittseinkommen im ganz Großraum Barcelona auf. Zudem besitzt die Stadt einen hohen Anteil an Migrant_innen aus z.B. Marokko und China sowie Angehörige der Sinti und Roma. Laut Frau Boj führt diese multikulturelle Struktur zwar zu sozialen Konflikten, aber weniger Rassismus. Dies ist insofern überraschend, da Rassismus an solchen sozialen Brennpunkten oft in Vorschein tritt und man kann sich durchaus fragen, ob das Museum mit seinem Ansatz einen Beitrag dagegen geleistet hat.

Führung durch das Museum

Das Museum, das für Besucher kostenlos ist und auch keine privaten Gelder annimmt, bezieht ihre Exponate von der Zusammenarbeit mit Schulen und Universitäten oder anderen Vereinen und Institutionen. Der thematische Fokus liegt dabei einerseits auf Aspekte der Migration allgemein wie Nomadentum in der Menschheitsgeschichte oder Arten von Grenzen, andererseits auf der innerspanischen Migration während der Franco-Diktatur.

1

Während einer Führung erfahren wir detaillierte Informationen in Bezug auf die innerspanische Migration. Das auffälligste Ausstellungsstück, ein zum Museum umfunktionierter Original-Zugwaggon des Sevillano aus dem Jahr 1959, mit dem Menschen aus Andalusien nach Katalonien kamen, bietet einen authentischen Einblick in die damalige Zeit und Umstände, mit denen sie sich damals konfrontiert sahen. Zum Beispiel mussten die Reisenden auf engstem Raum die 39-stündige Zugfahrt auf sich nehmen. Migrierende Frauen benötigten ein Erlaubnisschreiben vom ihrem Ehemann oder Vater, damit sie nicht als Prostituierte galten und bei Ankunft in ein Gefängnis landeten. Jedes Abteil des Waggons erzählt einen Aspekt über die Reise mit dem Sevillano und wird dabei durch Original-Utensilien, Bilder oder Film, unter anderem Ausschnitte mit Erzählungen von Zeitzeugen, unterstützt.

2

Webseite Museum: http://www.mhic.net/?page_id=649&lang=es

Text: Chiara Zattolo, Zheng Wu

Manteros

3

In touristischen Städten Spaniens, allem voran in Barcelona, prägt ein besonderes Merkmal das Straßenbild: Menschen mit dunkler Hautfarbe, die auf großen, ausgebreiteten Decken T-Shirts, Schmuckstücke und andere Kleinigkeiten verkaufen. Mit der Zeit ist daraus eine selbstorganisierte Gruppe von Migrant_innen entstanden. Wegen ihrer Decke – auf Spanisch „manta“ – werden sie „Manteros“ genannt. Da diese Art des Verkaufs auf Straßen und an öffentlichen Plätzen nicht erlaubt ist, haben die Manteros gelernt, sofort zu verschwinden, sobald sie Polizei sehen.

Am Nachmittag nach dem Museumsbesuch treffen wir zum Kennenlernen der Manteroseinige von ihnen in ihrem Laden „Top Manta“ in der Ciutat Vella in Barcelona. Unsere Gastgeber nehmen sich Zeit, um uns ausführlich von ihren persönlichen Geschichten und der ihres Stolzes, der Kleidungsmarke „Top Manta“ zu erzählen:

4

der folgende Teil ist keine wörtliche Wiedergabe der Erzählung, da dies durch Übersetzung und aufgrund des großen Umfangs nicht möglich ist. Vielmehr liegt der Fokus hierbei auf inhaltliche Aspekte. Auch die wörtlichen Zitate sind Übersetzungen.

Lamine kommt aus Senegal, wie die Meisten der Manteros, und lebt seit 2006 in Spanien. Er und weitere 98 Personen waren zusammen auf einer patera (typische, einfache Holzboote, mit denen Migrant_innen aus Afrika versuchen, nach Europa zu kommen), bevor sie endlich La Palma de Mallorca erreichten.
Die Bedingungen auf der patera waren sehr schlecht und die Reise dadurch sehr hart. Sie hat eine Woche gedauert. Als sie in Spanien ankamen, wurden sie wie Verbrecher behandelt. Das findet Lamine “unmenschlich”: “nach einer solchen Reise werden wir nicht getröstet, sondern eingesperrt”.

Die Grenzüberquerung ohne Papiere ist in Europa und Spanien als Verbrechen zu sehen und in Spanien erwartet ihnen daher der Prozess. In der Schule in Afrika haben sie gehört, dass es in Europa Recht und Demokratie herrscht – das war folglich auch die Erwartung von Lamine und seinen Gefährten. Doch stattdessen wurden sie von der Polizei festgehalten und mussten in einem Abschiebegefängnis auf eine weitere Entscheidung der Behörde warten. Die Wartezeit betrug maximal zwei Monate – nach einer Reform hat sich diese Zeit mittlerweile auf sechs Monate verlängert. Die Wahrscheinlichkeit, zurückgeschoben zu werden, hängt von der Verfügbarkeit der Flüge ab, die in ihre Herkunftsländer gehen. Anders als die meisten seiner Gefährten gehört Lamine zu den wenigen Glücklichen, die nicht unmittelbar abgeschoben wurden, da es für ihn zu der Zeit kein passender Flug gab. Er wurde geduldet.

La Ley de Extranjería (dt: das Ausländergesetz)

Nach der Erhaltung der Duldung dürfen die Migrant_innen für drei Jahre sich in Spanien frei bewegen: Die Dokumente, die sie bekommen, erlauben ihnen allerdings nicht, Spanien zu verlassen. Eine Arbeitsgenehmigung erhalten sie auch nicht. Es bleibt ihnen daher oft nichts anderes übrig, als auf der Straße illegal Waren zu verkaufen oder auf den Feldern schwarz zu arbeiten.

5

In dem Fall, wenn sie von der Polizei gefasst werden, müssen sie erstens eine Geldstrafe von mindestens 60 Euro zahlen. Lamine erzählt auch, dass einer seiner Bekannten wegen besonderer Schwere auch schon mal 10.000€ zahlen musste, nennt jedoch dazu keine Einzelheiten. Zudem werden all ihre Waren beschlagnahmt. Ferner droht ihnen auch noch die Abschiebung in ihr Herkunftsland. All diese Konsequenzen des spanischen Immigration- bzw. Ausländergesetzes führen dazu, dass Migrant_innen sich sehr ungerecht behandelt fühlen und aus Protest bezüglich der Gesetzgebung den Slogan „mata gente cada día“ (dt: tötet Menschen jeden Tag) z.B. auf Demonstrationen aufrufen.

Die Manteros kritisieren nicht nur das polizeiliche Vorgehen, sondern auch die einseitige Medienberichterstattung, die die Migrant_innen ins schlechte Licht rücken. Unsere Gastgeber erzählen uns explizit von einem Beispielfall, in dem diese deutlich werden: 2015 fand eine Razzia in der Wohnung von einem der vendedores (dt: Straßenverkäufer) statt, bei der ein afrikanischer Migrant ums Leben kam. Laut offizieller Darstellung war dieser Vorfall selbstverschuldet, laut den Manteros liegt die Schuld allein bei der Polizei. In der Folge organisierten sich in Barcelona große Proteste seitens der Manteros, die für ihre Rechte kämpfen wollten.

Die Mindestvoraussetzungen, die für die Legalisierung ihres Status‘ bzw. das Erhalten von Papieren zu erfüllen sind, erfordern eine Aufenthaltsdauer in Spanien von mindestens 3 Jahren und den Besitz eines Arbeitsvertrages mit einer Dauer von mindestens einem Jahr. Ein offizieller Arbeitsvertrag ist jedoch für sie sehr schwer zu bekommen: nicht nur, weil sie keinen klaren Status haben und deshalb kaum ein Arbeitgeber sie beschäftigen will, sondern auch aufgrund rassistischer Ressentiments. Um gegen diese “schlecht realisierbaren” Voraussetzungen und gegen die schlechte Behandlung von vielen Seiten vorzugehen, gründeten die Manteros eine eigene Gewerkschaft.

Top Manta

Das Projekt „Top Manta“ bzw. die gleichnamige Bekleidungsmarke ist ein weiterer Weg, mit dem die Manteros sich selbst helfen wollen. Sie schaffen selbst legale Arbeitsplätze in ihrem Laden im Zentrum Barcelonas und ihr Slogan ist “ropa legal hecha por gente ilegal” (dt: legale Kleidung gemacht von illegalen Menschen).

6

2017 starteten sie ein Crowdfunding, bei dem innerhalb eines Jahres über 3500 Menschen mitgemacht haben. Dabei wurde ca. 67.000 Euro gesammelt und die Teilnehmer erhalten im Gegenzug Top Manta-Kleidung. Mit dem Geld starteten sie Schritt für Schritt: Sie legten die Basis für ihren Laden, erwarben die Druckmaschinen für ihre Kleidung und stellten 15 T-Shirts her. Fünf davon wurden gleich von den Mitgliedern bei der Vorstellung ihrer Marke getragen, die restlichen zehn wurden jeweils für 10 Euro verkauft. Mit den Einnahmen wurde Zutaten gekauft, mit denen sie typisch senegalesisches Essen zubereiteten und auf fiestasverkauften.

7

Mittlerweile haben sie genug Umsatz gemacht, um ihren Laden voll auszustatten. Lamine betont außerdem, dass bei „Top Manta“ niemand ausgebeutet wird: Die Materialien und die Arbeitskräfte für ihre Kleidung sind fair trade. “Top Manta” ist auch mit einer Buchhandlung geteilt: außer Kleidungsstücke wie T-Shirts, Pullover, und Taschen kann man hier interessante Bücher meist mit Themen über Afrika kaufen.

8

Seit der Präsentation der Marke “Top Manta” ist das Medienecho weltweit sehr positiv gewesen. Ungefähr 4000 Menschen folgen bzw. unterstützen sie über ihre Webseite und in sozialen Netzwerken. Die Manteros haben auch schon weitere Ziele für die Zukunft geplant: demnächst werden die Kleidung weltweit geschickt, Ziel ist es hauptsächlich, die Unterstützer der Crowdfunding zu bedanken, die im Ausland wohnen. Außerdem wollen sie ihre Marke um eine Schuhkollektion erweitern.

Zusätzlich zum Verkauf finden jeden Samstag Workshops mit Kindern statt, mit dem Ziel, aufklärerische Arbeit bezüglich strukturellen- und Alltagsrassismus zu leisten sowie Vorurteile abzubauen. Zum Beispiel, dass über Afrika allgemein angenommen wird, dort dominiere Krieg, Armut und Hungersnot. Aber in Wirklichkeit ist Afrika auch ein Kontinent reich von Ressourcen und Menschen guter Bildung. Die Meisten der Migrant_innen, die aus Afrika nach Europa kommen, haben eine gute Ausbildung genossen oder hatten einen Beruf. Sie sind anständige Leute, die jede Art von Kriminalität ablehnen, aber aufgrund der Ley de Extranjería können sie in Spanien nicht arbeiten. Das Projekt “Top Manta” ist eben gegen dieses Gesetz gerichtet. Unter den bisherigen Erfolgen zählt die Entstehung von Bildungsprogrammen in Zusammenarbeit mit der katalanischen Regierung und die Beschaffung von Papieren für 60 der vorher illegalen Manteros.

Webseite der Manteroshttp://manteros.org/

Text: Chiara Zattolo, Zheng Wu

 

Eindrücke von „La Diada“

An diesem Tag nahmen wir als teilnehmende Beobachter_innen an der „Diada“ teil und führten kurze Interviews / Gespräche mit Demonstrant_innen und Bürger_innen. „La Diada“ ist der katalanische Nationalfeiertag: Zum Gedenken an die katalanische Kapitulation vom 11. September 1714, wird wieder seit 1980 (nach dem Ende der Diktatur) an diesem Tag in Katalonien demonstriert. Mit der Demonstration wird an die ursprüngliche Eigenständigkeit Kataloniens erinnert und darauf verwiesen, dass die katalanische Identität, Tradition und Sprache verteidigt werden müssen. Seit 2010 hat die Anzahl der Demonstrationsteilnehmenden enorm zugenommen, je nach Quelle wird von 300.000 bis zu einer Millionen Teilnehmenden jedes Jahr ausgegangen. In diesem Jahr 2018 forderten die Demonstrierenden lautstark eine eigenständige katalanische Republik. Besonders beeindruckend war die Massenperformance um 17:14 Uhr, als sich die hunderttausenden Demonstrant_innen an mehreren „la ola“- Wellen, die durch den Demonstrationszug gingen, beteiligten.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Erinnerungspolitik: allmähliches Gedenken

Wegen anhaltenden Repressionen während der Franco-Ära waren die Voraussetzungen für die Entwicklung einer kollektiven Erinnerung von Beginn an nicht gegeben. Die fehlende homogene Erinnerung in der Gesellschaft macht ein nationales Gedächtnis kaum möglich und spaltet das Land. Das Wiedererlangen des Gedächtnisses ist ein umfangreiches und schmerzhaftes Unterfangen, welches aber unbedingt notwendig ist. Heutzutage werden diese Entwicklungen hauptsächlich von der Zivilgesellschaft – in Form von Ausstellungen, Konzerten, Romanen und Fernsehbeiträgen – getragen.

Geschichtlicher Hintergrund

Nach dem Sieg im spanischen Bürgerkrieg 1939 übernahm Franco die Regierung in Spanien und es folgten grausame Jahre blutiger Vergeltungsaktionen gegen Anhänger der Republik, Kommunisten und diejenigen, die auf der anderen Seite im Bürgerkrieg standen. Die sogenannte „Blaue Periode“ der Säuberung bestand aus Inhaftierungen, Mord, Folter, Massenerschießungen, Kindesentziehungen und vielen weiteren Repressalien, die neben der reinen Vergeltung die Ausradierung des Marxismus in Spanien und allem Nicht-Spanischen zum Ziel hatte. Die Opfer wurden in Massengräbern verscharrt, so dass man bis heute nicht weiß, wie viele Menschen dem franquistischen Terror zum Opfer fielen. Auch die Folgen der Kindesentziehungen sind bis in die Gegenwart spürbar, denn viele Menschen in Spanien wissen bis heute nicht, wer ihre leiblichen Eltern sind.

Text: Nazanin Baba Khani, Lena Herrmann

 

Treffen mit der Organisation “ARMHC”

4

Am 10.09.2018 war ein Treffen mit der Organisation “Associació per a la recuperació de la memòria històrica de Catalunya” (ARMHC) geplant. Der Treffpunkt war die Institution Memorial Democràtic, dort wurden wir auch von den zuständigen Personen, Manel Perona, Pere Puig und Nuria Gallach freundlich empfangen.

Diese hatten für uns einen sehr interessanten Vortrag vorbereitet, in dem sie ihre Organisation sehr ausführlich vorstellten. Dazu gehörten Informationen über die Arbeit, die Ziele, die Probleme beziehungsweise die Herausforderungen und die bisherigen Erfolge der Organisation. Am Ende der Präsentation wurde auch über die Finanzierung der Gruppe berichtet. Hauptredner war Herr Perona, der den Vortrag auf Spanisch hielt. Übersetzt wurde der Vortrag jedoch ins Englische von Herrn Puig, der dann auch einen sehr interessanten Vortrag über die menschliche DNA hielt. Mehr dazu gibt es weiter unten zu lesen.

Zunächst jedoch möchten wir aber erstmal über die allgemeinen Informationen, die uns gleich am Anfang des Vortrages ermittelt wurden, berichten. Was steckt hinter der Organisation, wie arbeitet sie und wie ist sie denn überhaupt entstanden? Die ARMHC ist eine eingetragene, gemeinnützige Nichtregierungsorganisation, deren Ziel die Suche nach verschwundenen Opfern der franquistischen Repression ist. D.h. nach den sterblichen Überreste der Personen, die von Falangisten ermordet und anonym beseitigt oder begraben worden sind. Sie führten jahrelang die Exhumierungen und Identifizierungen von den Verschwundenen durch. Inzwischen übernimmt die katalanische Regierung die Aufgabe der Exhumierungen und Identifizierungen in Katalonien, was in Spanien einmalig ist. Weiterhin sammelt die Organisation mündliche und schriftliche Zeugnisse bezüglich der Opfer der Franco-Diktatur (1939-1975). Herr Perona erklärte uns, dass die Arbeit der Organisation erst im Jahr 2007 so richtig anfing, als das 30-jährige Schweigen des Landes – was das Thema „Opfer der Franco-Diktatur“ angeht – durch die Einführung des „Ley de la Memoria Histórica“ (auf Deutsch: das historische Gedächtnisgesetz) gebrochen wurde. Dieses Gesetz enthält mehrere Artikel, um das vergangene Unrecht zu korrigieren und die letzten Spuren des Franquismus in der Nation zu beseitigen. Laut Regierung war es das Ziel die Würde der Opfer und die Erinnerung an die Menschen wiederherzustellen, die im Gefängnis waren, unter Repression gelitten haben oder getötet wurden. Ein Teil dieses Planes war, dass Familien die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen ausfindig machen konnten, die sich in den hunderten von Massengräbern befinden, die im ganzen Land verstreut sind.  Es handelt sich dabei ausschließlich um die vielen Tausende von Francos Opfern, die in Straßengräben, Feldern oder einfach von Klippen geworfen worden sind. Viele Familien dieser Opfer haben es vorgezogen, die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit zu vergessen, während andere sich geduldig für würdevolle Bestattungen eingesetzt haben. Es gibt bis heute keine endgültige Bestätigung über die genaue Zahl der Verschwundenen, diese wird aber jedoch ungefähr 140.000 geschätzt.

5

Neueste forensische Verfahren

Um die Arbeitsweise der Organisation und was für eine große Bedeutung, die menschliche DNA für ihre Arbeit hat, besser verstehen zu können, hatte Herr Puig – der ein Biologe und Wissenschaftler der Universität Barcelona ist – einen sehr interessanten Vortrag für uns vorbereitet. Darin hat er uns erklärt, wie die gefundenen sterblichen Überreste exhumiert, identifiziert und den zugehörigen Familienmitgliedern zugeordnet werden. Die Arbeitsschritte sind wie folgt: sobald die ARMHC von Angehörigen darauf aufmerksam gemacht wird, dass sie ein vermisstes Familienmitglied haben, unternimmt die Vereinigung eine Recherche in verschiedenen Archiven der militärischen, kommunalen und öffentlichen Verwaltung. Alle Informationen, die dem Verein zur Verfügung gestellt sind, werden gründlich klassifiziert, digitalisiert und aus verschiedenen Datenbanken gesammelt. Historiker, Forscher und Verwandte, die die schreckliche Unterdrückung dieser Personen seit Jahrzehnten miterlebt haben, konsultieren diese Archive. Durch die Zeugenaussagen und Informationen aus öffentlichen Aufzeichnungen wird es möglich einen wahrscheinlichen Ort des anonymen Massengrabes zu bestimmen. Der nächste Schritt ist eine archäologische Ausgrabung.  Sobald die ersten Skelettreste entdeckt werden, kann damit begonnen werden die Form und Größe des Grabes zu definieren. Alle Beweise, einschließlich der Position der Skelette und aller Objekte in der Nähe, müssen sorgfältig gesammelt und dokumentiert werden. Die Hauptschwierigkeit besteht jedoch darin, die Überreste für die Identifizierung zu unterscheiden, da diese vermischt sind. Dies erfordert eine sorgfältige archäologische Methodik. Anhand von Frakturen kann die Todesursache festgestellt werden. Die Überreste werden extrahiert und getrennt und in eine Kiste gelegt. Die Kiste wird mit Informationen markiert, die das Grab und das Individuum identifizieren und dann weiter zur Überführung in das Labor zur forensischen Analyse und Identifizierung geschickt. Die forensischen Anthropologen, arbeiten freiwillig in dem Labor, um die Opfer zu identifizieren, da sie zu der Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses beitragen möchten. Falls erforderlich, ordnet der Verband DNA-Tests an, um die Opfer zu identifizieren. Dies erfordert, dass ein Fragment des Femurs und zwei Molaren entfernt und zusammen mit dem Speichel eines lebenden Verwandten in ein privates Labor zur genetischen Analyse geschickt werden. Da diese Laboratorien ihre Arbeit in Rechnung stellen, übernimmt der Verband die Kosten für diese Tests.

6

Herr Puig (rechts im Bild) hat versucht die Präsentation über die menschliche DNA in Bezug auf die Verschwundenen auf eine ausführliche und sehr spannende Art und Weise zu halten, was ihm auch gelungen ist. Alle Teilnehmenden haben sehr aufmerksam zugehört und schienen sehr an dem Thema interessiert zu sein. Sogar am Ende der Veranstaltung wurde darüber noch diskutiert und Fragen dazu gestellt. Im Großen und Ganzen, könnte die Präsentation auch als das Highlight der Veranstaltung betrachtet werden.

Mehr als nur Archäologie

Der Rest des Vortrages ging dann weiter, in dem uns Herr Perona über die Wichtigkeit des Vereins informierte. Es ergaben sich drei wesentliche Punkte: Der erste Punkt war, sich an die Vergangenheit zu erinnern. Seit Jahren arbeitet die Organisation daran, die Würde der Opfer des Regimes wiederherzustellen und Gerechtigkeit für diejenigen zu fordern, die in Spanien bisher keine Stimme hatten. Ein weiterer Punkt war die Bekämpfung eines Klimas der Angst und Gleichgültigkeit. Durch das langsame Verschwinden der Zeitzeugen wurde die Suche nach den anonymen Massengräbern besonders schwierig, aber Dank der Bürger_innen, Forschungsarchive und Informationen, die von Verwandten und der ARMHC eingeholt wurden, ist es jetzt immer noch möglich die anonymen Gräber ausfindig zu machen und die Überreste mehr als siebzig Jahre nach den Exekutionen zu bergen.  Die Existenz der Massengräber wurde vom Franco-Regime benutzt, um auf dem Land Angst zu verbreiten. Es ist eine Angst, die zum Teil noch bis heute anhält. Familienmitglieder wurde es verboten die sterblichen Überreste ihrer Verwandten zu bergen. Es ist dadurch eine Art Gleichgültigkeit entstanden, die auch die Einstellung der Gesellschaft gegenüber der Lokalisierung und Exhumierung von Massengräbern prägt. Der letzte Punkt waren die Ergebnisse, die die Organisation bisher erreicht hat. Darunter zählen die Aktivitäten, die in den Bereichen der historischen Forschung, Suche, Exhumierung und Identifizierung gemacht wurden, die dann schließlich die Rückgabe der sterblichen Überreste der Opfer an ihre Familien ermöglicht hat.

Finanzielle Unterstützung

Herr Perona erklärte uns auf die Nachfrage hin, wie die Organisation finanziert würde, dass ein Leitprinzip des Vereins ist, dass von Verwandten nicht erwartet werden sollte, dass sie die Kosten für das Auffinden, die Exhumierung oder Identifizierung der Überreste ihrer Angehörigen übernehmen. Obwohl die Vereinten Nationen die Exhumierungen als Aufgabe und Verantwortung des spanischen Staates erklärt haben, hat die Organisation jahrelang keine staatlichen Mittel erhalten. Mitgliedsbeiträge halfen, einige der laufenden Kosten der Aktivitäten zu decken. In Katalonien übernimmt aber inzwischen die Regionalregierung alle Kosten, die bei der Öffnung eines Massengrabes anfallen.

Forderungen an die Regierung

Auf die Frage, welche Forderungen die Organisation an die spanische Regierung gestellt hat, wurden u.a. folgende Punkte genannt:

  1. Gewährleistung der Einhaltung nationaler und internationaler Rechtsrahmen für die Suche nach Verschwundenen, sowohl aus der Zeit des Bürgerkrieges als auch aus der Nachkriegszeit, um offiziell Untersuchungen, Exhumierungen und Identifizierungen von internationalen Archäologen, Anthropologen und forensische Spezialisten entwickelten Protokollen zu fördern.
  2. Entwicklung einer Gruppe von Studien zur historischen Erinnerung an den Bürgerkrieg und die Diktatur durch das Medien- und Bildungssystem, von der Diktatur zur Demokratie.
  3. Verabschiedung eines dringenden Dekrets, um alle Symbole des Franco-Regimes, einschließlich Monumenten, Gedenktafeln und offiziellen Logos, Straßennamen, so schnell wie möglich zu entfernen.
  4. Digitalisierung von Militärarchive, um sie über das Internet für das Volk verfügbar und zugänglich zu machen.  Es ist ein Grundrecht der Bürger, Zugang zu offiziellen Dokumenten zu bekommen, die notwendig sind, um ihre vermissten Verwandten ausfindig zu machen, was durch viele Jahre der Demokratie verhindert wurde.
  5. Die öffentliche Anerkennung der Männer und Frauen, die sich für die Verteidigung von Demokratie und Freiheit eingesetzt haben.

Zusammenfassung

Das Thema „Erinnerungskultur“ und das Treffen mit der ARMHC war für mich eine sehr beeindruckende Erfahrung. Wir haben damit nicht nur viele interessante Fakten über die Vergangenheit erfahren, sondern auch allgemeine Informationen über die menschliche DNA dazu gelernt. Durch das langsame Verschwinden der Zeitzeug_innen stirbt die Erlebnisgeneration der Opfer und Täter_innen aus. Deshalb ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, dass von überlebenden Opfern so viele Erlebnisberichte wie möglich auf Video festgehalten werden. Da heutzutage viele junge Spanier_innen in Schulen immer noch nicht über die Wahrheit ihrer eigenen Geschichte richtig informiert werden, ist das Öffnen eines Massengrabes aus der Zeit der Franco Diktatur eine wichtige Bildungsaufgabe. Die heutige Gesellschaft wird stark durch die Popularisierung, Kommerzialisierung und Verflüssigung der Erinnerungskultur geprägt. Diese erzeugt in uns eine Art Sehnsucht nach „der Wahrheit”, „Authentizität” und unumstößlichen Fakten. In vielen anderen Ländern werden die Anerkennung derjenigen, die im Krieg gefallen sind und der Schmerz der Zurückgebliebenen von Regierungen aller Überzeugungen unterstützt.  Es gibt eine kollektive Trauer und Verpflichtung zum Erinnern, gefangen in dem Satz: „Damit wir es nicht vergessen”.  In Spanien ist dieses Thema trotz des 1975 begonnenen Übergangs zur Demokratie jahrzehntelang tabu gewesen.  Der spanische Übergang wurde als friedlich gepriesen, aber dies ging leider auf Kosten der Erinnerung. Organisationen wie die ARMHC versuchen diese „vergessene“ Erinnerung wiederherzustellen und machen dadurch tagtäglich immer weitere Fortschritte, was auch ein weiterer kleiner Schritt zur Erfüllung einer internationalen Verpflichtung ist. Ich möchte diesen Bericht mit einem Zitat von Yevgeny Yevtushenko beenden: „When truth is replaced by silence, the silence is a lie.” („Wenn die Wahrheit durch Stille ersetzt wird, dann ist die Stille eine Lüge“).

Text: Nazanin Baba Khani

Treffen mit einem Zeitzeugen

Am Nachmittag von Tag 4 trafen wir uns mit Pere Fortuny am Gedenkort Fossar de la Pedrera. Dieses Massengrab ist Teil des Montjuïc-Friedhofes und birgt von ca. 4.000 Opfern der franquistischen Repression die sterblichen Überreste. Die Diktatur Francos hatte Spanien fast 40 Jahre lang fest im Griff, sie kam erst 1977 zu ihrem Ende. Der 85-jährige Fortuny hat eine persönliche Verbindung zu diesem Ort und teilte seine Geschichte mit uns.

Die Treppen, welche zu der großen Fläche des Gedenkortes führen, wurden Treppen im KZ-Mauthausen nachempfunden und brachten damit eine bedrückende Stimmung beim Betreten der Grabstätte. Die Stelen am oberen Teil der Treppen erklärten in der ersten Reihe die Geschichte. Die zweite Reihe der Stelen trug die Namen der zwischen 1939 und 1952 in Barcelona Erschossenen.

1

Die Abfolge der Geschehnisse war aus der Erzählweise von Fortuny leider nicht vollkommen herauszufinden. Dennoch soll hier ein grober Abriss festgehalten werden.

Pere’s Geschichte

Pere Fortuny ist der Sohn eines Mannes, der in dieser Gedenkstätte begraben wurde. Der Vater Joseph Fortuny war Konditor und der republikanische Bürgermeister von Mollet del Vallés, nördlich von Barcelona. Als nach dem Bürgerkrieg Anfang 1939 hunderttausende Menschen vor den siegreichen Putschisten in Richtung Frankreich flohen, befand sich unter ihnen auch Joseph. Nach nur 15 Tagen beendete dieser seine Ausreise, wie viele andere auch. Grund dafür war das Versprechen Francos, sie hätten nichts zu befürchten, wenn sie nichts verbrochen hätten. Wie jedoch zu erwarten war, wurde er direkt beim Grenzübertritt festgenommen und in ein Gefängnis in León gebracht. Seine Familie setzte sich dafür ein, dass er in ein Gefängnis näher an der Heimat verlegt wird. Als Joseph jedoch nach Barcelona verlegt wurde, wurde er sofort zum Tode verurteilt.

Bei diesen franquistischen „Prozessen“ wurden bisweilen zwanzig Menschen gleichzeitig verurteilt, ohne das Recht auf einen Anwalt gehabt zu haben. Nur wenige Zeit später wurde Joseph an dem Strand erschossen, an dem viele in Barcelona Erschossene ihr Schicksal fanden. Die Leichen dieser Menschen wurden dann auf Lastwagen geladen und zum heutigen Massengrab gebracht. Zu dieser Zeit gab es nur einen Zugang zu den Klippen, welche das Tal bilden, in welchem die Toten heute ruhen. Von dort oben wurden die toten Körper über Rutschen hinunterbefördert und mit Kalk und Erde verdeckt, um die Beweise der Straftat schneller verschwinden zu lassen.

Zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges hatte Joseph Fortuny eine gute Tat vollbringen wollen. Er hatte den Priester des Dorfes gerettet und ihm bei der Flucht nach Barcelona geholfen. Während des Bürgerkrieges wurden viele Priester vor allem von anarchistischen Kräften getötet, da sie als Franquisten und Feinde der Republik galten.  Als Joseph Fortuny bereits im Gefängnis war, kam der Priester zum Haus der Familie und versprach ihnen, etwas zu tun, was sie ihm niemals vergessen würden. Die Familie glaubte daran, dass der Priester Joseph Fortuny freilassen könnte. In diesem Glauben fuhr Pere‘s Mutter am nächsten Tag zum Gefängnis, um ihren Mann abzuholen. Am Morgen desselben Tages war Joseph Fortuny jedoch erschossen worden. Als sie später den zuständigen Anwalt damit konfrontierte, war dieser über die Geschehnisse nicht informiert, sondern verwirrt, da er ein Gnadengesuch eingereicht hatte. Die letzte Instanz, bevor es zu einer Exekution kam, war immer Madrid, von dort kam die letzte Unterschrift. Heute bestätigt die Einsicht der Akten, dass Joseph Fortuny nicht exekutiert werden sollte. Also hatte der Priester wirklich etwas vollbracht, was ihm die Familie Fortuny niemals vergessen würde. Doch damit hörte sein Terror nicht auf. (Pere bezeichnete den Priester während seiner Erzählung als einen von Grund auf bösen Menschen). Der Priester drang in das Haus von Joseph Fortuny ein und eignete es sich an. Darunter fiel die umfangreiche Bibliothek von Joseph Fortuny und Gemälde, deren Wert heute wohl im mehreren tausend Euro Bereich liegen würde. Trotz dieser Umstände entschied sich Pere´s Mutter gegen ein Leben ins Exil. Sie lebte mit Sohn und Tochter erst eine Weile bei den Eltern. Denen wurde jedoch vom franquistischen Bürgermeister ihres Dorfes und dem Priester gedroht, dass sie ruiniert werden, sollten sie ihre Familie aufnehmen. Trotzdem nahmen die Großeltern ihre Enkel bei sich auf. Daraufhin wurde kurzerhand jedem im Dorf verboten, mit ihnen Geschäfte zu machen. Hätte nicht ein Freund Lebensmittel auf ihr Grundstück geschmuggelt wären sie wohl verhungert. Doch der Terror wollte kein Ende nehmen. Behörden versuchten, die Kinder zwangsweise in kirchliche Internate zu stecken. Die Guardia Civil wurde vom Priester beauftragt, die Kinder aus dem Haus zu holen, doch deren Großmutter stellte sich ihnen in den Weg und konnte das verhindern. Für diese Tat wurde sie zu umgerechnet mehreren tausend Euro Strafe verurteilt. Weil das nicht bezahlt werden konnte, wurden sie enteignet. Erst später konnten die Großeltern einen Kredit aufnehmen und so die Strafe abbezahlen. Zusätzlich wurde den Kindern verboten, öffentliche Schulen zu besuchen und somit mussten sie den Besuch einer Privatschule bezahlen.

Pere Fortuny konnte sich an sein sechstes Lebensjahr erinnern, von welchem an er jeden Sonntag mit seiner Mutter das vermeintliche Grab seines Vaters besuchte, um Blumen niederzulegen. Bloß gab ihnen jeder Wachmann eine andere ungefähre Position an.

2

Gerechtigkeit statt Rache

Heute sind die Toten mit einem grünen Rasen bedeckt und der Platz ist ein dezenter Ort der Erinnerung geworden. Dieser Zustand ist der Associacio Pro-Memoria zu verdanken. Der President dieser Vereinigung ist Pere Fortuny. Erstmals 1976 schlossen sich Familienangehörige der Opfer zusammen, um diesen Ort würdiger zu gestalten. Damals wurde der Ort beherrscht von dicken Ratten, Schlangen und Müll. Das Ziel der Familien war es vor allem, dass Stadt sich des Ortes annimmt und ihn gestaltet. 7 Jahre dauerte es, bis sie Erfolg erlangten. Was sie jedoch bis heute nicht schaffen konnten, ist die Annullierung der Urteile und damit die Anerkennung, dass diese Menschen keine Verbrecher waren, sondern teilweise aufgrund persönlicher Präferenzen ermordet wurden. Auf katalanischer Ebene gibt es bereits ein Gesetz, welches die Urteile dieses „Gerichtsverfahrens“ annulliert. Es hat jedoch keine Wirkung, da es auf oberster Ebene in Madrid nicht anerkannt wird.

Trotz der Grausamkeit, welche Pere, stellvertretend für alle Familien der Opfer, durchleben musste, handelt die Organisation nach dem Motto Gerechtigkeit, keine Rache.

Zusammenfassung

Das Treffen mit Pere Fortuny war ein beeindruckendes Erlebnis. Er ist einer der wenigen Augenzeugen dieses Teils der Geschichte Spaniens. Es ist sehr wichtig, dass Menschen diese Geschichte hören und zuhören. So schmerzlich die Erinnerung auch sein mag, es ist wichtig für eine ernstzunehmende Demokratie, durch das Herausfinden der Wahrheit, Etablierung von Gerechtigkeit für die Betroffenen und die Wiedergutmachung, eine Erinnerung zu schaffen.

3

Text: Lena Herrmann

Krisen: Sí se puede, pero no quieren

Am dritten Tag unserer Exkursion beschäftigen wir uns mit der Finanzkrise und ihren Nachwirkungen für den spanischen Staat. Wir begeben uns hierfür nach Manresa und Sabadell, um von Mitgliedern einer der größten Bürgerinitiativen mehr über den Widerstand gegen die Banken und die politische Untätigkeit  zu erfahren.

Spaniens Weg in die Rezession

Die Lehman-Brothers-Pleite von 2008 führte zu einer globalen Wirtschaftskrise. In den Folgejahren entwickelte sich die Situation für Europa zusätzlich zu einer Staatsschuldenkrise und einer Bankenkrise. Bis dahin konnte Spanien als ein Musterbeispiel einer erfolgreichen Volkswirtschaft angesehen werden, denn der Staat verzeichnete in 2008 bereits das vierzehnte Wachstumsjahr in Folge. Jedoch musste auch die Wirtschaft des spanischen Staates den restlichen europäischen Ländern in eine lang anhaltende Krise folgen, nachdem das spanische Mustermodell seine Mängel offenbart hatte. Eine Kombination aus politischen Entscheidungen, der Staatsstruktur, dem institutionellen Verfall und der Mitgliedschaft in einer fehlerhaften Währungsunion können als wesentliche Ursachen für die Wirtschaftskrise in Spanien genannt werden. Ähnlich wie die Euro-Zone erlebte Spanien eine dreifache Krise aus finanziellen, fiskalischen und kompetitiven Problemen.

Hintergründe der Wirschafts- und Immobilienkrise Spaniens

Warum war Spanien für die Krise anfällig? Trotz des jahrelangen Wachstums schaffte es Spanien nicht, seine Produktivität zu erhöhen. Im Gegenteil schrumpfte diese regelmäßig und lag unter dem EU-Durchschnitt. Die produktivsten Aktivitäten trugen beispielsweise nur elf Prozent zum BIP-Wachstum bei. Ein weiteres Problem war, dass Spaniens Wachstum auf ökonomisch schwachen Sektoren konzentriert war. Zu diesen gehören die Dienstleistungen und das Bauwesen, welche nicht dem äußeren Wettbewerb  ausgesetzt sind. Im Vergleich zum Rest der EU lag die Inflationsrate in Spanien ungefähr einen Punkt über dem Durchschnitt. Dadurch konnten sich spanische Unternehmen schlechter an Marktanteilen beteiligen, denn spanische Produkte verloren an Wettbewerbsfähigkeit. Heiner Flassbeck sieht das Problem für südeuropäische Länder bei ihren Partnern. So konnte beispielsweise Deutschland seit Bestehen der Währungsunion Lohnstückkosten niedrig halten, während diese in südeuropäischen Staaten anstiegen. Außerdem war die Zielinflationsrate niedriger als in Spanien und anderen Ländern, die allmählich die Marktanteile verloren. Des Weiteren stand die private Verschuldung 2006 bei 115 Prozent und der Anteil des Bauwesens am BIP bei 18,5 Prozent. Die Hauspreise sind seit 1998 um 150 Prozent gestiegen und der Durchschnittspreis für einen Quadratmeter Wohnraum kletterte von 700 Euro im Jahr 1997 auf 2000 Euro im Jahr 2006 bei gleichzeitiger Verdopplung des Wohnungsbestands. In Spanien wird Wohneigentum der Miete vorgezogen, woraus folglich die Nachfrage nach Krediten steigt. Vor der Finanzkrise fokussierte sich das Bauwesen auf die Errichtung von Wohnvierteln, die sich anschließend in Leerstand verwandelten. Solche Fehlkalkulationen und verschwenderische Investionen erfolgten auch auf staatlicher Ebene und förderten den Korruptionsverdacht. Die Anzeichen für eine Blasenbildung waren grob erkennbar. Aber der Staat unternahm wenig, um die Produktivität mit Hilfe von Reformen im Bildungswesen und Investitionen in Forschung und Entwicklung zu erhöhen. Zudem fehlten Reformen für den öffentlichen Sektor und den Arbeitsmarkt. Das Leistungsbilanzdefizit in den Jahren 2006 und 2007 betrug jeweils 8,9 und 10 Prozent, was Spanien zum größten Verlierer nach USA machte. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise führten Spanien in eine der schlimmsten Rezessionen in der Geschichte des Landes. 2012 erreichte die Arbeitslosigkeit ein Niveau von 27 Prozent, was mehr als 6 Mio. Menschen entsprach. In den Jahren vor der Finanzkrise war die Regierung unter Zapatero nicht bereit, die Krise als solche anzuerkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Grund dafür waren die Wahlen im März 2008, sodass der Wahlkampf die ökonomischen Probleme überwog. Die Regierung handelte zwar danach, aber es war zu spät. Hervorzuheben ist außerdem, dass der Finanzsektor durch die exzessive Darlehensgewährung an Bauträger und Hypotheken zu der Immobilienblase beigetragen hat. Nach Ausbruch der Krise wurde deutlich, dass vielen Banken Insolvenz droht. Die Folge davon war die finanzielle Rettungsaktion von der EU in 2012. Die damit verbundenen restriktiven Konditionen leiteten auch für Spanien eine Austeritätspolitik ein, um die Defizite der letzten Jahre auszugleichen.

Im Jahr 2018 hat Spanien die Arbeitslosigkeit auf ca. 16 Prozent reduziert, was immer noch hoch ist, dennoch ließ sich das fünfte Jahr BIP-Wachstum verzeichnen. Jedoch liegt der Schuldenstand am BIP nach zehn Jahren bei ungefähr 100 Prozent deutlich höher. Der Reformprozess hat in Spanien Fortschritte gebracht, aber dieser muss weitergeführt werden.

Wir haben während unserer Exkursion die Spuren der Wirtschaftskrise gesehen, dass manche Bevölkerungsgruppen sich den Wohnraum nicht leisten können und sich an Initiativen wenden. Die Krise wird aktiv von der Bevölkerung und durch Selbstorganisation und Solidarität bekämpft. Insbesondere gelingt das im Bezug auf die Wohnungsnot. So ist während der Immobilienkrise eine der größten Bürgerinitiativen, die PAH, entstanden.

Royo (2015), S. 9-12.

Was ist PAH?

PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca) ist eine Plattform gegen Zwangsräumungen in Spanien. Sie entstand 2009 während der Finanz- und Immobilienkrise in Spanien und bietet Hilfe zur Selbsthilfe für Menschen, die sich eine normale Wohnung nicht leisten können. Die in ganz Spanien aktiven, horizontal organisierten Gruppen versuchen, Menschen bei ihrer Suche nach bezahlbarem Wohnraum zu unterstützen, vermitteln leerstehende Wohnungen, bieten Rechtshilfe, setzen sich gegen Zwangsräumungen ein und besetzen zusammen mit Wohnraumsuchenden leerstehende Wohnungen, die Banken oder Immobilienfirmen gehören. Ziel hierbei ist nicht die Schädigung der Wohnungsbesitzer, sondern den Verfall neuer, aber leerstehender Immobilien zu verhindern und legalen sowie vor allem bezahlbaren Wohnraum für finanzschwache Menschen zu schaffen. Obwohl PAH in den letzten Jahren für viele Menschen die letzte Hoffnung war, vielen Menschen helfen konnte und eine Gesetzesinitiative für bezahlbaren Wohnraum auf den Weg gebracht hat, gelten die Gruppen aufgrund der illegalen Hausbesetzungen in Spanien als politisch umstritten.

PAHC Manresa

Mit dem Zug aus Barcelona erreichen wir Manresa. Dort treffen wir zwei Aktivist_innen der PAHC. Mit Hilfe der Initiative konnten für einige Menschen in Not sieben Gebäude als Wohnraum gewonnen werden. Auf dem Weg zu einem der besetzten Gebäude erfahren wir, dass mehr als 120 Familien bereits in solchen besetzten Häusern in Manresa wohnen. Die Aktivist_innen unterstreichen die Rolle der Initiative, indem sie die PAHC sogar stärker als die politische Opposition einschätzen. Wir passieren das erste besetzte Gebäude, welches als Versammlungsort für die Gruppierungen dient. Es liegt im ältesten Viertel von Manresa, wo der Migrantenanteil besonders hoch ist. Nach der Wirtschaftskrise blieben viele Wohnungen leer. Manresa weist in Katalonien den höchsten Leerstand mit 21 Prozent auf, denn die Stadt war ebenfalls das Ziel von spekulativen Immobiliengeschäften, die die Wohnungspreise in die Höhe trieben. Man erzählt uns, dass PAHC mit anderen Initiativen kooperiert. Eine davon bietet den Jugendlichen eine Boxschule an, in der den Kindern neben der Selbstverteidigung auch soziale Werte vermittelt werden. In Manresa leben sehr viele Migranten aus Marokko und der Anteil von unbegleiteten Minderjährigen ist hoch. Die Angebote der PAHC helfen ihnen, die Migrationsphase nicht allein durchleben zu müssen. Als die Wirtschaftskrise ausbrach, kehrten manche Migranten aus Lateinamerika und anderen Herkunftsländern in ihre Heimat zurück. Wir erfahren von den Aktivist_innen, dass die Arbeit von PAH in Manresa und Sabadell einen Schritt weitergeht. Die Plataforma richtet sich zusätzlich gegen Kapitalismus, deshalb nennt sie sich PAHC. Die Bewegung entstand während der Wirtschaftskrise, weil die Menschen nicht mehr die Hypotheken begleichen konnten. Zu den Betroffenen zählten insbesondere die Arbeiterklasse und die Mittelschicht. Zu den Pionieren der PAH gehörten zunächst traditionelle spanische Einheimische, die sich gegen die Zwangsräumungen mobilisierten. Später schlossen sich ihnen Migranten an. Unsere Gruppe erreicht den sogenannten Block „Set“, also das jüngste der sieben besetzten Gebäude. Auf dem Dach des Hauses hören wir mehr über die PAHC.


1

Zu Gast auf dem Dach eines durch PAHC Manresa besetzten Hauses. Alex (links) übersetzt uns grundlegende Informationen über die Gruppe und unsere Fragen an die Aktivistin (Mitte), sowie die persönlichen Schicksale zweier im Haus wohnenden Frauen (rechts).

In Spanien gibt eine Familie ungefähr 70 % des Einkommens für Wohnraum aus. Solche Ausgaben waren während der Krise unrealistisch hoch, weshalb die PAH als erste Forderung maximal 20 % für Wohnraum verlangte. Der zweite Wunsch der Initiative war das Ende von Zwangsräumungen. Und schließlich sollte die Regierung sozialen Wohnraum schaffen. Die Forderungen wurden in das spanische und katalanische Parlament eingereicht, jedoch blieben diese ohne Erfolg. In Katalonien wurde zwar ein progressives Gesetz verabschiedet, jedoch ist es dem spanischen Gesetz untergeordnet. Trotz der Schwierigkeiten auf politischer Ebene gelang es der Initiative mehr als 5000 Zwangsräumungen in ganz Spanien zu verhindern. Um das zu schaffen, bilden die Aktivist_innen entweder Menschenketten oder verbarrikadieren sich in Häusern der Betroffenen. Man erzählt uns außerdem, dass Spanien die Zwangsräumungen mit einem Expressräumungsgesetz vereinfacht hat, sodass ein richterlicher Beschluss nicht mehr nötig war. Unsere Gesprächsrunde mit den Aktivist_innen wird erweitert, als zwei Bewohner_innen zu uns kommen. Beide sind Migrant_innen und erzählen über sich. Für eine der Frauen war die erste Woche nach der Besetzung des Hauses sehr bewegend, weil sie viel Unterstützung von anderen Mitgliedern und ihren neuen Nachbarn bekommen hat, um ihre Wohnung mit Möbel auszustatten. Wir werden zum Tee mit hausgemachten Leckerbissen in eine der Wohnungen eingeladen und führen das Gespräch dort weiter.

2

Im Anschluss kamen wir in den Genuss äußerst leckerer marokkanischer Gastfreundschaft und konnten so einen weiteren Einblick in das Leben der Familien in besetzten Häusern bekommen.

3


Die Aktivist_innen heben hervor, dass PAHC mehr als die Wohnraumfrage löst. Vielmehr will man ein Netzwerk schaffen, welches Solidarität und Engagement bei seinen Mitgliedern steigert und an neue Mitglieder weiterreicht. Wer in ein besetztes Haus einziehen darf, entscheiden die Bewohner in einer Versammlung. In der Regel sind Menschen, die eine Wohnung bekommen, schon sechs oder acht Monate bei der PAHC aktiv. Falls es keine anderen Alternativen für den Erwerb einer Wohnung gibt, hilft PAHC mit dem besetzten Wohnraum. Die gefährlichste Zeit nach einer Besetzung sind die nächsten 48 Stunden, weil die Polizei das Recht hat, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Aus diesem Grund kommen viele PAHC-Mitglieder zusammen, um sogar Wache zu schieben. Die zu besetzenden Gebäude werden danach ausgesucht, ob diese den Banken gehören. Block „Set“ gehört im Gegensatz zu den ersten sechs aber einer Immobilienfirma. In Katalonien bekommen die Aktionen der PAHC Beifall von dem Rest der Einwohner, weil die Banken nach der Krise sehr stark in der Öffentlichkeit kritisiert werden. Bevor wir uns auf den Weg zu zwei anderen Orten der PAHC in Manresa vorbereiten, erklärt man uns, dass die Arbeit bei PAHC unentgeltlich ist und die Aktivist_innen einem normalen Job nachgehen. Die meisten Menschen, denen die PAHC geholfen hat, engagieren sich weiter als Mitglied der Initiative. Wir bedanken uns für die Gastfreundschaft des Blocks „Set“ und suchen weitere Orte der PAHC auf. Der erste ist eine Schule, in welcher nach dem Montessori-Konzept akademische und soziale Fächer gelehrt werden. Nach der Eröffnung vor drei Jahren, nehmen nun mehr als 60 Kinder das Angebot wahr.


4

Die Aktivist_innen von PAHC Manresa versuchen nicht nur, Hilfesuchenden mit Wohnungen zu helfen, sondern wollen auch darüber hinaus ein möglichst gutes und normales Leben finanzschwachen Familien ermöglichen. Dazu gehört auch ein Bildungsangebot für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Der zweite Ort ist eine Frauenschule. Auch sie wurde vor drei Jahren gegründet und hilft Frauen mit unterschiedlich kulturellen Hintergründen, Katalanisch oder Spanisch zu sprechen und zu schreiben. Dies ist auch der Ort, an welchem eine feministische Initiative den Frauen mit und ohne Migrationshintergrund hilft, sich gegen Sexismus und Rassismus zu behaupten.

PAHC Sabadell

Anschließend geht es mit dem Zug weiter nach Sabadell, wo wir mit weiteren Aktivist_innen der dort ansässigen PAHC verabredet sind. Wir treffen uns in einem großen und modernen Mehrfamilienhaus, welches früher von PAHC Sabadell besetzt war. Hier berichtet uns ein Aktivist und Hausbewohner von einem ganz besonderen Erfolg: Nachdem PAHC Sabadell und Wohnraumsuchende jahrelang ein großes Mehrfamilienhaus besetzt haben und mit der Immobilienfirma, der das Haus gehört, und der Regierung von Sabadell Verhandlungen geführt haben, gelang es ihnen schließlich, Mietverträge für alle Hausbewohner abzuschließen. Die in den Verträgen festgesetzten Mieten richten sich dabei nach dem Einkommen des Mieters, wer mehr Geld verdient muss auch mehr Miete zahlen. So ist es einer Familie beispielsweise möglich, in einer ausreichend großen Wohnung zu leben und dabei weniger als 300€ für die Miete auszugeben. Diese Mietverträge sind aber nicht nur zwischen den Mietern und der Immobilienfirma geschlossen, sondern beteiligen auch den katalanischen Staat sowie die Stadt-Administration, welche die Differenz der unterschiedlichen Mieten übernimmt. Daraus ergibt sich nicht nur ein Vorteil für die Hausbewohner, sondern auch für die Stadt, da das Haus so in einem gepflegten Zustand bleibt und positiv zum Stadtbild beiträgt. Außerdem erzählt uns auch dieser Aktivist von seiner ganz persönlichen Lebensgeschichte, wie und wieso er von Afrika nach Katalonien gekommen ist, wie er versucht hat, sich in dem neuen, fremden Land durchzuschlagen und wie PAHC Sabadell sein Leben positiv verändert hat. Während er erzählt und unsere Fragen beantwortet, kommt noch eine weitere Aktivistin und Hausbewohnerin hinzu. Auch sie berichtet von ihrer Situation. Außerdem wird deutlich, wie gut sich die Hausbewohner untereinander verstehen, wie stark der Zusammenhalt noch immer ist und wie dankbar alle sind, eine Wohnung bekommen zu haben. Jetzt hoffen sie, dass ihr Ansehen bei den anderen Stadtbewohnern etwas steigt. In der Vergangenheit sei es nämlich häufiger zu (rassistischen) Anfeindungen gekommen, da die Aktivist_innen in dem besetzten Haus als Schmarotzer angesehen wurden. Anschließend dürfen wir noch die Wohnung des Aktivisten besichtigen.

5

In Sabadell hatten wir ebenfalls die Möglichkeit mit Aktivist_innen der dortigen PAHC zu sprechen. Zwei Hausbewohner erzählten uns auch hier ihre persönliche Geschichte und wie sich ihr Leben durch PAHC verändert hat. Das Besondere hier: Durch ihr jahrelanges Durchhaltevermögen und Besetzung des Hauses haben inzwischen alle Bewohner legale Verträge zu für sie erschwinglichen Mieten.

6

Text: Linda Freiberger, Alexander Strokin

Feminismus – Ein kurzer historischer Überblick

Frauen waren und sind immer noch eine den Männern gesellschaftlich nachgeordnete Gruppe.

Unter Feminismus werden verschiedene soziale und politische Bewegungen zusammengefasst. Sie alle eint die Bestrebung gegen die systematische Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen vorzugehen und die Forderung nach gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Emanzipation und Selbstständigkeit, Gleichberechtigung der Geschlechter und eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung des bestehenden patriarchalen Systems.

Für viele Frauen in den Industrienationen ist es mittlerweile selbstverständlich, von den Errungenschaften der Frauenbewegung Gebrauch zu machen: Zugang zu Bildung und Universitätsstudium, das Recht zu wählen und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung hat Millionen von Frauen ein neues Selbstbewusstsein gegeben.

Doch dem ging ein langer Kampf voraus, der Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Anfang nahm.
Frauen war es bis dahin verwehrt, sich für ihre Interessen einzusetzen, wurden sie doch immer noch fremdbestimmt und als Objekt männlicher Dominanz gesehen.

Etwa zeitgleich bildeten sich Frauenbewegungen weltweit in verschiedenen Klassen-, ethnischen und kulturellen Milieus heraus. Sie hatten sich den Kampf für ein antisexistisches und antiklassistisches Wahlrecht auf die Fahnen geschrieben, wie auch die Forderung nach politischer Teilhabe und Mitspracherecht sowie freien Zugang zu Universitäten und allen Berufen und Ämtern.
Diese erste Phase des Feminismus ebbte in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts allmählich ab, nachdem die grundlegenden Forderungen erreicht wurden. Im Nationalsozialismus erfuhr die Frauenbewegung einen herben Rückschlag: Feministische Vereine und Organisationen wurden gleichgeschaltet oder aufgelöst, und die Frau wurde wieder in das Korsett ihrer vermeintlich wahrhaftigen Rolle gezwängt.

Angefeuert durch die Bürgerrechtsbewegung in den USA sowie der Studierendenbewegung der 1960er Jahre, gewann die Frauenbewegung wieder an Zulauf und verschaffte sich Gehör. Wieder sagte sie den festgefahrenen Frauenbildern den Kampf an, genauso wie der Darstellung der Frauen in der Pornographie. Die FrauenrechtlerInnen kämpften für sexuelle und körperliche Selbstbestimmung (insbesondere für das Recht auf Abtreibung) sowie gegen die Tabuisierung und Straflosigkeit sexueller und häuslicher Gewalt. Trotz der juristischen Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung der BRD von 1949, waren sie in der Realität noch weit entfernt von der Gleichstellung: Frauen hatten immer noch mit Lohndiskriminierung zu kämpfen und waren in der BRD politisch kaum repräsentiert.
Mit der Zeit differenziert sich die Bewegung jedoch aus. Migrantinnen, Lesben, Mütter, etc. organisieren sich in eigenen Gruppen.

In den 80er und 90er Jahren gewinnt die dritte Welle an Fahrt. Die Themen umfassen jetzt Gewalt gegen Frauen, reproduktive Rechte (Familienplanung als Grundrecht) und die Institutionalisierung der Frauenbewegung in Politik und Wissenschaft. Es werden Gleichstellungsabteilungen gegründet und -berater eingesetzt. Zeitgleich gewinnt Intersektionalität im feministischen Diskurs an Bedeutung. Das Konzept stammt von Kimberlé Crenshaw, einer Schwarzen Juristin und Feministin. Es beschreibt mehrere Unterdrückungsformen, die eine Schwarze Frau erlebt: Frau sein, Schwarz sein, Angehörige einer bestimmten sozialen Schicht sein, nicht-heterosexuell sein, …

Ebenfalls wichtig wird nun auch die Queer-Theorie. Transgender-Menschen werden in die Bewegung einbezogen. Menschen wollen sich selbst definieren und nicht definiert und fremdbestimmt werden.

In den letzten Jahren rückte der Feminismus durch soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter, Instagram und Tumblr wieder ins Bewusstsein. Sie werden genutzt, um eigene Erfahrungen wie zum Beispiel sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, auf der Straße oder in der Uni zu teilen.

Quellen:

Ruth Becker, Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2004.

http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/frauenbewegung/35287/neue-welle-im-westen?p=all(aufgerufen 25.10.18)

Text: Marlene Buhk

Um einen Gesamtüberblick über die Rolle der Frau innerhalb der spanischen Gesellschaft zu bekommen, wird nun im Folgenden zusätzlich noch kurz erklärt, was für einen Einfluss die Diktatur Francos auf die Frauen in Katalonien, wie auch in ganz Spanien, einnahm und in welchem Maße die Frauen aus jener Zeit unterdrückt wurden und wie sie sich dann schließlich kämpferisch gegen das Regime zur Wehr setzten.

FRAUEN IN KATALONIEN ZUR ZEIT DES FRANQUISTISCHEN REGIMES

Der General und Diktator Francisco Franco (1892-1975) herrschte von 1939 bis zu seinem Tod in Spanien. Während des blutigen spanischen Bürgerkriegs stieg er an die Macht, als seine nationalistischen Streitkräfte mit der Unterstützung von Deutschland und Italien die demokratisch gewählte Zweite Republik stürzen konnten.
Franco nahm den Titel “El Caudillo” (Der Führer) an, verfolgte politische Gegner, unterdrückte die Kultur und Sprache der baskischen, wie auch die der katalanischen Regionen Spaniens und übte seiner Zeit die uneingeschränkte Kontrolle über das Land aus.

1.) Auswirkungen des Franco-Regimes auf die weibliche Identität in Katalonien

Die katalanischen Frauen haben während der franquistischen Diktatur ausgehend von der patriarchalischen spanischen Kultur enormen Druck erfahren, der sie dazu veranlasste, sich mit ihrer eigenen Identität unter der nationalstaatlichen Ideologie auseinanderzusetzen. Sie erfuhren in jener Zeit mehrfache Unterdrückung, da sie nicht nur unter der patriarchalischen Ideologie und dem Verbot der katalanischen Kultur und Sprache litten, sondern auch unter einer geschlechterspezifischen Unterwerfung.

1.1) Die Geschlechterideologie Francos

Griffin (1994) hat den Begriff des Natürlichen in Bezug auf das Weibliche in ihrer Analyse von Mary Wollstonecraft “A Vindication of the Rights of Women” (“Verteidigung der Rechte der Frau”) zusammengefasst: “Rhetorically, she was constructed as an adjunct to man, her sole purpose being to please and to flatter so that she could marry and then disappear under the name of her husband. Possessing neither legal nor social identity of her own, she became a kind of “phantom object” who, with every trace of her fundamental nature concealed, struggled to find and create an identity that was her own”

Die Konstruktion von Weiblichkeit gemäß den Prinzipien des Nationalkatholizismus sah die Gebärmutter als den wesentlichen Ort der weiblichen Arbeit und den “natürlichen” Ort der weiblichen Produktion an. Frauen wurde in diesem Kontext in Bezug auf Männer oftmals kaum Beachtung geschenkt und sie wurden per Gesetz auf das Haus (die Privatsphäre) beschränkt und besaßen fast keinerlei Rechte außerhalb dessen. Zudem wurden sie auf ein Körperobjekt reduziert, der sozialen Handlungsfähigkeit beraubt, in ein Schicksal der Fortpflanzung versetzt und sollten ihren einzigen Zweck, nämlich den der christlichen Ehe, erfüllen.

Als jedoch in den 1950er Jahren die Konsumwelt in Spanien Einzug hielt, kam die Metapher der Mutter als Trägerin und Beschützerin der Nation ins Wanken, da immer mehr Frauen nach Möglichkeiten suchten, die enge Definition der Rolle einer Frau in der Konstruktion der eigenen nationalen Identität zu erweitern.

So wurde den spanischen Frauen vermittelt, in der Öffentlichkeit entsprechend der national-katholischen Ideologie zu konsumieren, gleichzeitig wurden sie aber unterdrückt und in die Privatsphäre verwiesen. Aus diesem Grund war die weibliche Identitätskonstruktion außerhalb der Geschlechterideologie von Franco nahezu unmöglich.

1.2) Der feministische Kampf

Oftmals werden in der akademischen Literatur Teile der Erfahrungen von Minderheitengruppen vernachlässigt. Darunter fällt auch das Thema “Geschlecht”, das erst seit Kurzem Untersuchungsgegenstand bildet und nun unter Anderem auch Frauen im Zusammenhang von patriarchalischer männlicher Unterdrückung untersucht werden.

Die Bedeutung, die Frauen bei der Wahrung des katalanischen Kulturguts einnahmen, wird oftmals unterschätzt: Die aus Katalonien verbannte Sprache zur Zeit der Franco-Diktatur konnte unter Anderem dank der  Frauen im traditionell femininen und häuslichen Raum überleben. Die katalanischen Frauen stellten die Privatsphäre wieder her, indem sie die öffentliche Nutzung der katalanischen Kultur und Sprache in den häuslichen Raum verlegten. Daraus resultierend, veränderte sich der Begriff der Öffentlichkeit und der Privatsphäre, sodass die katalanische Sprache und Kultur somit nicht durch die monolinguistischen und patriarchalen Ideologien der Franco-Diktatur ausgerottet werden konnten.

Diese Form des Widerstands gegen das Patriarchat leistete einen wesentlichen Beitrag für die Stärkung und Wiederauflebung der nationalen Identität und schwingte als bedeutende Erfahrung hinsichtlich des Feminismus in Katalonien mit.

1.3) Francos Haltung zum Feminismus

Nash (1991) beschreibt Francos Haltung: “Feminism and egalitarian demands all characterized women‟s growing corruption and denial of their natural mandate as mothers”

“Feminismus und egalitäre Forderungen charakterisierten die zunehmende Korruption und die Leugnung des natürlichen Mandats von Frauen als Mütter”

Durch die Normalisierung des Diskurses, der die Rolle einer Frau als sozial akzeptable “gute Frau” (Frau und Mutter, Jungfrau oder Nonne) bekräftigte, machte das Regime jedoch deutlich, dass durchsetzungsfähige Frauen keinen Platz in der Diskussion über die Rolle der Frau innerhalb der spanischen Nation hatten.

Trotzdem kämpften die Frauen in Katalonien und ganz Spanien weiter und ließen sich nicht unterdrücken. In den 1930er Jahren erkämpften sich die Frauen unter der Regierung der Zweiten Republik schließlich viele Rechte und obwohl die Geburtenkontrolle bereits praktiziert und auch die Abtreibung in Katalonien als legal galten, wurden sie beide nicht als Normen akzeptablen sozialen Verhaltens assimiliert.

Als Resultat aus den kurzlebigen und kaum akzeptablen sozialen Errungenschaften, welche die Frauen in den 1930er Jahren erlangten, entwickelte sich dann schließlich der Feminismus, der es den Frauen ermöglichte, in Francos Spanien eine subversive und heimliche Rolle einzunehmen.

Quellen:

Clarke, C. (2006). The days of good looks: the prose and poetry of Cheryl Clarke, 1980 to 2005, New York. NY: Carroll & Graf.

Nash, M. (1996). Political culture, Catalan nationalism, and the women‟s movement in early twentieth-century Spain. Women‟s Studies International Forum, 19(½).

Griffin, C. (1994). Rhetoricizing Alienation: Mary Wollstonecraft and the Rhetorical Construction of Women‟s Oppression. Quarterly Journal of Speech, 80(3).

Text: Johanna Wohlfrom

Vortrag von Joana Grenzner von Xarxa Feminista de Catalunya

Joana Grenzner spricht über den feministischen Diskurs in Spanien und speziell Katalonien. Weiter berichtet sie über den ersten Generalstreik der Frauen am 8. März dieses Jahres, dem Frauenkampftag. 

1

Wir treffen die Journalistin Joana am Samstagnachmittag in einer alten Textilfabrik umgeben von hochragenden Luxusneubauten. Die ehemalige Fabrik wurde 2011 zu einem selbstverwalteten Nachbarschaftszentrum umfunktioniert – Can Battló. Der Komplex beherbergt eine Bibliothek, ein Archiv, eine Bar, es gibt eine Art „Küche für Alle“, verschiedene politische und soziale Organisationen haben hier ihr Büro.

2

3

Am internationalen Frauenkampftag gingen 5,3 Millionen Frauen in ganz Spanien nicht zur Arbeit – und legten somit das gesamte Land still. Im Fernsehen traten fast nur Männer auf, hunderte Züge fielen aus, auch im Haushalt wurde nichts angerührt. Transmenschen und Männer zeigten sich solidarisch, die Gewerkschaften waren auch beteiligt. Sie alle wollten deutlich machen, dass ohne Frauen nichts läuft und die Gesellschaft zum Erliegen kommt. Mit ihrem Generalstreik wollten sie für die Gleichberechtigung und reproduktive Rechte kämpfen sowie gegen die Gewalt an Frauen protestieren.

Sie setzen sich auch für die Frauen, die in privaten Haushalten als Kindermädchen oder Haushaltsgehilfin angestellt sind, ein. In Spanien sind mehr als eine Million in diesem Sektor in prekären Arbeitsverhältnissen angestellt. Bis 2011 gab es noch keine Gesetze, die das Vorhandensein eines Arbeitsvertrages gesetzlich vorschrieben, geschweige denn einen Zugang zu Sozialversicherung, Krankengeld und Urlaub ermöglichten. Auch heute noch sind viele Frauen, die in diesem Sektor arbeiten, sexueller Belästigung durch ihren Arbeitgeber ausgesetzt.

Ein weiteres wichtiges Thema für die Frauenrechtler_innen in Katalonien (- und darüber hinaus in ganz Spanien) ist die Legalisierung der Prostitution und deren Anerkennung als Arbeitstätigkeit. Momentan arbeiten die Prostituierten im juristischen Graubereich. Doch obwohl die sozialdemokratische Regierung im September gegen die Anerkennung als normale Arbeit gestimmt hat, geben sie den Kampf nicht auf. Viele der freiwilligen Prostituierten und Escortdamen sind seit den 1990er und 2000er Jahren in Vereinen organisiert. In Barcelona hat sich darauf sogar eine Gewerkschaft gegründet.

Joana Grenzner schließt ihren Vortrag mit einem letzten wichtigen Punkt: der Gewalt an Frauen.
Allein 2017 wurden in Spanien (etwa 46 Millionen Einwohner) 99 Femizide (Gewalttaten an Mädchen und Frauen mit Todesfolge) registriert. Es gibt zwar ein Gesetz was physische und psychische Gewalt an Frauen bestraft, jedoch werden pro Jahr nur knapp 30000 Fälle im Rahmen dieses Gesetzes registriert. Doch das ist nur die Spitze des Eisberges: Es wird davon ausgegangen, dass lediglich 10% der Fälle zur Anzeige gebracht werden.
Momentan arbeiten die Aktivist_innen daran, den Gewaltbegriff zu erweitern: Ihnen ist es wichtig, in ökonomische, physische und psychische Gewalt zu unterscheiden.
Zur Zeit ist es beispielsweise noch so, dass eine Vergewaltigung erst dann als solche geahndet wird, wenn die Frau sich aktiv verteidigt – ansonsten ist es juristisch gesehen „nur“ sexueller Missbrauch. Dass aber die Frau sich durch aktive Verteidigung in noch mehr Gefahr begeben würde, wird außen vorgelassen.

Die feministische Bewegung kämpft für ein Leben ohne Gewalt. Die AktivistInnen wollen eine Gesellschaft schaffen, in der jede Transperson, jeder Junge und jedes Mädchen die gleichen ökonomischen und sozialen Ausgangsbedingungen besitzt. Sie setzen sich auch für eine Form der Erziehung für alle, die dazu beiträgt, dass zwischenmenschliche Beziehungen ohne Gewalt und Machtgefälle entstehen können.

Quellen:

https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Partnerschaftsgewalt/Partnerschaftsgewalt_2016.pdf(abgerufen 27.10.2018)
https://geo.feminicidio.net(abgerufen 27.10.2018)

Bild 1 von Michele, Bild 2 von Alex

Text: Marlene Buhk

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten